Duisburg

Am liebs­ten foto­gra­fiert er „in den Nachmittag hin­ein“, im Sommer, bis zur Dämmerung. Das Licht ent­falte dann seine ganze Fülle, sagt Laurenz Berges, es mache die Dinge „noch drei­di­men­sio­na­ler“. Bevor er die Kamera in Stellung bringt, geht er in geräum­ten Kasernen oder Dörfern spa­zie­ren, die wegen des Braunkohletagebaus ver­las­sen wur­den, wan­dert ziel­los und schein­bar ohne Plan umher, „ganz ent­spannt, ohne kon­krete Vorstellung“. Irgendwann fällt ihm etwas Beiläufiges auf, irgend­et­was, in das sich die Zeit ein­ge­schrie­ben hat – eine ver­wit­terte Toreinfahrt, regen­nas­ser, brü­chi­ger Asphalt, eine Mauer, ein Türschild. Dann stellt sich bei eine „gewisse Nervosität“ ein, und „ich beeile mich“.

Manchmal ist das Licht schon wie­der anders, nach­dem er die Plattenkamera aufs Stativ mon­tiert hat, Berges notiert dann den Ort, kehrt zu einem spä­te­ren Zeitpunkt zurück und ver­sucht es noch ein­mal. Er hat Zeit. Sie ist eines der kost­bars­ten Güter sei­ner foto­gra­fi­schen Praxis. In allem nimmt Berges sich die Zeit, die ein Bild nach sei­nem Verständnis braucht. Bevor er über­haupt eine Aufnahme an die Öffent­lich­keit gibt, hat er es ein Jahr lang bei sich gehabt, lässt es „immer wie­der durch meine Hände gehen“ und, ein­zeln oder im Zusammenhang mit ande­ren, auf sich wir­ken. Diese Karenz, eine per­sön­lich auf­er­legte Sperrfrist, die dem Ausstellungswesen heute voll­kom­men fremd ist, lagert sich in sei­nen Aufnahmen ab: Es sind ver­bind­li­che, end­gül­tige Kompositionen, die mit jeder Ände­rung zer­stört wären. Was die sicht­bare Welt an Flüchtigem zu bie­ten hat, ver­dich­tet Laurenz Berges in ste­hen­der Gegenwart zum Bild. Es sagt sich so leicht: Die Zeit scheint darin auf­ge­ho­ben. Doch kaum ein Fotograf sei­ner Generation ver­fügt über eine so dif­fe­ren­zierte Bildsprache für die Dignität des Ephemeren wie der 1966 in Cloppenburg gebo­rene, seit lan­gem in Düsseldorf lebende Berges. Die atmo­sphä­ri­sche Fülle der Leere hat Berges zu sei­nem Lebensthema gemacht.

Gut zehn Jahre sind ver­stri­chen, seit er, frü­her ein­mal Assistent der Fotografin Evelyn Hofer, Duisburg als Ort ent­deckt und zu erkun­den begon­nen hat. Unter den Revierstädten habe diese am meis­ten Charisma, fin­det er und nennt den Binnenhafen, die Brücken, die unter­ge­gan­gene Schwerindustrie, den miss­glück­ten Strukturwandel. Duisburg habe etwas von einer Filmkulisse. Allein – die gän­gi­gen Ruhrpott-Klischees fin­den sich nicht in sei­nen Farbfotografien unter dem Titel „4100 Duisburg“. Vielmehr taucht man ein in eine ent­le­gene, ver­schwie­gene Welt ein. Der Untertitel „Das letzte Jahrhundert“ flir­tet iro­nisch mit Endzeitstimmung. Gelegentlich ver­gisst man beim Betrachten der Fotografien die Bestimmung der Gegenstände und ent­deckt eine Schönheit in ihnen, die den Rahmen des Bildes braucht, um vor Augen tre­ten zu kön­nen. Melancholisch, nicht aber nost­al­gisch – so ließe sich das Credo Berges‘ skiz­zie­ren. „Ein Gefühl der Verlorenheit und Desorientierung scheint über die­ser Stadt zu lie­gen, ein Bardo, wie er im Buddhismus beschrie­ben wird: näm­lich ein tran­si­to­ri­sches Stadium nach dem leib­li­chen Tod, bevor sich ein Wesen erneut inkar­niert“, schreibt Heinz Liesbrock im Katalog zur Ausstellung der Werkgruppe im Josef-Albers-Museum in Bottrop.

In sehr sel­te­nen Fällen nimmt sich Berges die Freiheit, als Regisseur ins Bild ein­zu­grei­fen, dann zum Beispiel, wenn er in einem her­un­ter­ge­kom­me­nen Hinterhof einen älte­ren Herrn antrifft, mit ihm ins Gespräch kommt, ihn bit­tet, an dem abge­wrack­ten Gartentisch Platz zu neh­men. Und ihn sei­ner­seits als zum Inventar gehö­rig erschei­nen lässt. Oder wenn er Bilder nach­träg­lich retu­schiert, indem er etwa einen nagel­neuen Stromkasten ver­schwin­den lässt, der sich bei einem Besuch zuvor dort noch nicht befun­den hatte und die Aufnahme zweier Bäume an einer Straße in Butendorf domi­niert hätte. Butendorf? Das Foto, gesteht Berges, ist gar nicht in Duisburg ent­stan­den, son­dern etwas wei­ter nörd­lich im Ruhrpott, in Gladbeck.

„4100 Duisburg. Das letzte Jahrhundert“ von Laurenz Berges. Koenigs Books, London 2020, 170 Seiten. Bis 3. Mai im Josef-Albers-Museum, Bottrop.