4100 Duisburg: „… an den Nähten reißen.“

„Eine Mülltonne kann manch­mal, für mich zumin­dest, schön sein. Das hat damit zu tun, dass man wirk­lich sieht. Manche Menschen sind in der Lage, dies zu sehen – zu sehen und zu füh­len. Ich mag den Zauber, die visu­elle Kraft der ästhe­tisch absto­ßen­den Dinge.“[1]

Walker Evans

 

Wer, wie der Autor die­ser Beobachtungen, in den 1950er und 60er Jahren in Duisburg groß wurde, erlebte eine vitale Stadt von ganz eige­nem Gepräge: wirt­schaft­lich pros­pe­rie­rend und kul­tu­rell ambi­tio­niert. Um 1960 zählte Duisburg, geo­gra­fisch bestimmt durch seine Lage an den Flüssen Rhein und Ruhr, zu den deut­schen Kommunen mit dem höchs­ten Pro-Kopf-Einkommen. Von Süden her, an der Grenze zu Düsseldorf, bis zum Norden der Stadt, der sich zum Niederrhein hin öff­net, reih­ten sich am Rhein indus­tri­elle Anlagen der Schwerindustrie wie an einer Perlenschnur: Deren Namen rufen noch heute den Klang des deut­schen Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg wach und erin­nern an eine Kultur ursprüng­lich pri­va­ter Unternehmen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts ent­stan­den waren: Demag, Mannesmann, Kupferhütte, Krupp, Thyssen und Stinnes. Eine beson­dere Note ver­lieh der wirt­schaft­li­chen Struktur der Stadt die Brauerei König in Beeck, ein Familienunternehmen, das ein Pilsener Bier mit her­ber Note pro­du­zierte, das deutsch­land­weit bekannt war. Bier, das „Brot“ des Arbeiters, wurde in allen Städten des Ruhrgebiets gebraut, König Pilsener aber stand im Ruf der Exklusivität. Die Brauerei, deren unver­kenn­bare Duftnote an vie­len Tagen über den gan­zen Stadtteil hin­weg­zog, lag unweit des weit­läu­fi­gen Areals der Thyssenhütte, das bis nach Hamborn reichte und seine ver­edel­ten Eisen– und Stahlprodukte in die ganze Welt expor­tierte. Der Hafen bil­dete dabei die eigent­li­che Lebensader der Stadt: in ihrer Mitte rund um die Mündung der Ruhr in den Rhein gele­gen, griff er weit aus in die urbane Topografie und gab ihr Mitte und Halt. „Schön war es im Ruhrgebiet nir­gends und nie“, so hat der Historiker Ulrich Herbert ein­mal die Region sei­ner Herkunft cha­rak­te­ri­siert.[2] Dies galt auch für Duisburg. Und doch war die „Stadt Montan“, wie sie damals noch genannt wurde, ein urba­ner Organismus mit eige­ner unver­kenn­ba­rer Identität und stach, so meint man sich zu erin­nern, aus dem Einerlei der Städte an Ruhr und Emscher her­aus. 

Denn die Vitalität, die ihr Wirtschaftsleben cha­rak­te­ri­sierte, hatte ihr Pendant in einem ernst zu neh­men­den kul­tu­rel­len Engagement. Wie alle Städte des Ruhrgebiets wurde auch Duisburg über Jahrzehnte mit abso­lu­ter Mehrheit von der SPD regiert. Damals jedoch gehör­ten Aufklärung, Bildung und Kultur noch zum unver­brüch­li­chen Selbstverständnis die­ser Partei, mit dem sie, ihrem Gründungsauftrag fol­gend, die Arbeiterschaft zur Mündigkeit füh­ren wollte. Diesem Anspruch ver­moch­ten in Duisburg beson­ders die bei­den lang­jäh­ri­gen Oberbürgermeister August Seeling und Josef Krings ein glaub­wür­di­ges Gesicht zu geben. Mit ihrer Person stan­den sie für eine kul­tu­relle Dimension des Lebens ein, die ihnen unab­ding­bar war. Duisburg unter­hielt gemein­sam mit Düsseldorf die ange­se­hene „Deutsche Oper am Rhein“, die Stadt war Träger des nach dem in Meiderich gebo­re­nen Wilhelm Lehmbruck benann­ten, inter­na­tio­nal aner­kann­ten Museums für skulp­tu­rale Kunst, und in der Zentralbibliothek im Herzen der Stadt lagen täg­lich wie selbst­ver­ständ­lich die wich­ti­gen Zeitungen der inter­na­tio­na­len Presse zur Lektüre bereit; schließ­lich kam der Tag, da der Oberbürgermeister Krings sei­ner Partei mit Rücktritt drohte, um eine das Ballett betref­fende Kürzung im Kulturetat zu ver­hin­dern. Duisburg, so will es dem Chronisten schei­nen, war damals „beson­ders“ und rech­nete sich selbst auch nicht zum Ruhrgebiet: Mitten in der Stadt stand bis in die 1970er Jahre ein Richtungsschild, das mit zwei Aufschriften nach Westen in die „Niederlande“ und nach Osten ins „Ruhrgebiet“ wies.

Von heute aus betrach­tet hat die­ses Bild einer intak­ten Stadt etwas Märchenhaftes. Denn die Folgen des viel zu spät ein­ge­lei­te­ten indus­tri­el­len Strukturwandels im Ruhrgebiet sind schon lange auch in der „Stadt Montan“ und ihrer maro­den Infrastruktur unüber­seh­bar. Duisburg ist aktu­ell ein „Armenhaus“, ist hoch über­schul­det, kann die Kosten sei­ner tat­säch­li­chen Aufgaben nicht stem­men und hat einen zu hohen Anteil von Bewohnern mit Migrationshintergrund, deren Integration schwie­rig ist. Die Vorgeschichte, die zu die­ser Situation geführt hat, sei kurz umris­sen. Ein Elitenkartell von Wirtschaft, Gewerkschaften und regio­na­ler Politik ver­schloss sich über Jahrzehnte der Einsicht, dass im Ruhrgebiet das Zeitalter der Schwerindustrie defi­ni­tiv an ein Ende gekom­men war. Der Strukturbruch, um den es eigent­lich ging, wurde aus­ge­blen­det. Umkehrmaßnahmen wur­den ver­mie­den. Mit hohen staat­li­chen Subventionen wurde eine wirt­schaft­li­che Struktur erhal­ten, die längst unrett­bar ver­lo­ren war. Und so ero­dierte auch das soziale Leben. „In der Konsequenz hat dies zur star­ken sozia­len Segregation geführt, zur Über­al­te­rung des Ruhrgebiets, zu über­pro­por­tio­nal hohen Arbeitslosenzahlen – und dazu, dass in Gladbeck oder Herten zwei Drittel der Jugendlichen unter acht­zehn Jahren in Armut oder pre­kä­ren Lebenslagen auf­wach­sen und in den dor­ti­gen Grundschulen sieb­zig, acht­zig oder sogar hun­dert Prozent der Kinder einen soge­nann­ten Migrationshintergrund haben.“[3]

Das Terrain, das Laurenz Berges in Duisburg über die letz­ten Jahre gedul­dig erkun­det hat, ist mit die­ser Beschreibung einer tief rei­chen­den sozia­len Misere des Ruhrgebiets ver­gleich­bar. Er hat sich vor allem in jenen Teilen der Stadt bewegt, die vor­mals die Standorte der Schwerindustrie waren und nun in beson­de­rer Weise von den Auswirkungen des Strukturwandels betrof­fen sind. Ein all­ge­mei­ner Niedergang urba­ner Qualitäten ist offen­sicht­lich. Dabei geht es in die­sen Bildern jedoch nie um eine kon­krete Darstellung sozia­ler Fehlentwicklungen. Berges inter­es­siert viel­mehr, wie die Dinge im Bild spre­chend gemacht wer­den kön­nen, um eine Erfahrungsdimension nach­voll­zieh­bar wer­den zu las­sen: Innenräume, Details von Architektur, Fragmente der Natur, einige wenige Personen. Berges arbei­tet im Modus des Indirekten, seine Fotografie erschafft eine par­al­lele Wirklichkeit, die über Einzelheiten hin­aus­reicht und umso ein­dring­li­cher eine Bildwirkung der Totalität anstrebt. 

In Duisburg hat er Bilder einer Leere gefun­den, die von einem grund­le­gen­den Schweigen erfüllt sind. Ein Gefühl der Verlorenheit und Desorientierung scheint über die­ser Stadt zu lie­gen, ein Bardo, wie er im Buddhismus beschrie­ben wird: näm­lich ein tran­si­to­ri­sches Stadium nach dem leib­li­chen Tod, bevor sich ein Wesen erneut inkar­niert. Dies macht auch die beson­dere Intensität der Bildwirkung nach­voll­zieh­bar. Das Licht und die Stille sind ihre Boten. Das wei­che Tageslicht füllt die Räume, innen und außen, mit einem ungreif­ba­ren Volumen. Die Mattigkeit der Farben lässt sie umso inten­si­ver wir­ken, weil sie nicht mehr Oberflächenerscheinung, son­dern wie Körper sind. Sie schei­nen in die Bildfläche fast mate­ri­ell ein­zu­sin­ken. In die­sen Fotografien ist eine Langsamkeit der Beobachtung ange­legt, die sich auf unsere Betrachtung über­trägt. Das Leben in sei­nem ver­meint­li­chen Schwund wird ange­hal­ten und fin­det zu einer Erfüllung in der Gegenwärtigkeit.

Berges’ Bilder beschrei­ben einen Weg nach innen. Es geht nicht allein um die Darstellung der äuße­ren Phänomene, die ein Stadtbild cha­rak­te­ri­sie­ren, son­dern um eine exis­ten­zi­elle Dimension. Wie befin­den wir uns in der Welt? Das foto­gra­fi­sche Festhalten des in ste­ti­gen Zyklen ver­ge­hen­den Lebens (denen, wohl gemerkt, auch regel­mä­ßig neue Blütezeiten der Öko­no­mie und Kultur fol­gen) ist das zen­trale Thema sei­ner Kunst. In sei­nen Fotografien kün­det die Szenerie Duisburgs von einer dem mensch­li­chen Leben anhaf­ten­den Vergänglichkeit und Schwermut, deren Schweigen allein gekon­tert wird durch jene Dimension bild­li­cher Schönheit, die sich im Licht und in den Farben ver­wirk­licht. Sie allein erscheint wie eine Aussicht auf Erlösung. 

Mit die­ser Perspektive bewegt sich Berges, wohl als ein­zi­ger Künstler in unse­rer Zeit, in den Spuren zweier Giganten der Fotografie des letz­ten Jahrhunderts, näm­lich Eugène Atget (1857–1927) und Walker Evans (1903–1975). Diese bei­den ins­be­son­dere waren es, die sich der Darstellung einer alt gewor­de­nen Kultur und ihrer im Zerfall begrif­fe­nen Dinge wid­me­ten. Atget foto­gra­fierte in Paris jene teil­weise noch aus dem Mittelalter stam­men­den Gebäude, die von der urba­nen Neuerungskampagne des Barons Haussmann ver­schont wor­den waren und nun in abseh­ba­rer Zeit auch nie­der­ge­ris­sen wer­den soll­ten. Er setzte ebenso die Parks und die Adelsresidenzen in der Umgebung der fran­zö­si­schen Hauptstadt ins Bild, die lang­sam ver­fie­len und vom Ende der sozia­len Bedeutung des frü­he­ren Ersten Standes berich­te­ten. Der Antrieb sei­nes künst­le­ri­schen Handelns war die Faszination durch jene cha­rak­te­ris­ti­sche Schönheit des Verfalls und es war der Wunsch, das, was bereits dem Untergang anheim­ge­stellt war, in der Fotografie für die nach­kom­mende Welt noch ein­mal zu bewah­ren. 

War Atget ein fast unbe­wusst han­deln­der Fotograf, der allein sei­ner Sehnsucht nach dem gebro­che­nen Licht der Vergangenheit zu fol­gen schien, um darin eine Reflexion sei­ner Person zu fin­den[4], so begeg­nen wir in Evans einem zutiefst bewusst han­deln­den, intel­lek­tu­ell sou­ve­rä­nen Künstler, der sich über die ästhe­ti­sche Dimension sei­ner Arbeit immer im Klaren war. Auch er fühlte sich ange­zo­gen von der alten Architektur auf den Plantagen der ame­ri­ka­ni­schen Südstaaten, sowohl von ihren Herrenhäusern als auch von den Hütten der Sklaven, die sie sich aus selbst gebrann­ten Ziegeln gebaut hat­ten. Genauso fas­zi­nier­ten ihn die vik­to­ria­ni­schen Holzhäuser des 19. Jahrhunderts in der Umgebung von Boston, deren Architektur und orna­men­ta­ler Schmuck von loka­len Zimmerleuten gefer­tigt wor­den war. Ihnen wid­mete er ab 1930 eine sei­ner ers­ten grö­ße­ren Arbeiten, ein frü­hes Zeugnis sei­ner Liebe für jenen ver­na­cu­lar style, der direkt aus der Tätigkeit von loka­len Handwerkern gebo­ren war. Er ver­stand ihn als einen „Klassizismus des Normalen“, ein Stil, der sich sei­ner eige­nen ästhe­ti­schen Dimension gar nicht bewusst war. In Evans’ Sicht aber war er jener tra­dier­ten hohen Kunst, die in den Museen gezeigt wurde, über­le­gen, weil sich in ihm – der sich auch in pri­va­ten Wohnräumen, Kirchen, Läden und Schildern zei­gen konnte – die Lebensenergie ein­fa­cher ame­ri­ka­ni­scher Menschen unmit­tel­bar mani­fes­tierte. Als Evans im Jahr 1963 das vor dem Abbruch ste­hende und bereits leer geräumte Gebäude des New Yorker Bahnhofs Pennsylvania Station foto­gra­fierte, um der Architektur und den Details der Inneneinrichtung ein Denkmal zu set­zen, ging es ihm um den Wert eines natio­na­len his­to­ri­schen Zeugnisses, das dem Untergang geweiht war und so nie­mals wie­der errich­tet wer­den könnte. Sein Interesse an sol­chen Formen der Vergangenheit habe, so sagte er, nichts mit sen­ti­men­ta­ler Nostalgie zu tun, son­dern es gehe ihm um eine kul­tur­ge­schicht­li­che Dimension, wenn näm­lich etwas im Begriff sei, die Bühne der Geschichte zu ver­las­sen. Im Alten und Vergehenden der Kultur unse­res Alltags trete in beson­de­rer Deutlichkeit ein geis­ti­ger Impuls her­vor, eine Kraft, die sich einem blin­den Fortschrittsglauben und der leer­lau­fen­den Bewegung des immer wie­der Neuen ent­ge­gen­stelle.[5] 

Evans’ fast schwär­me­ri­sche Liebe zu die­sem Altgewordenen der Dinge hatte ihr Korrektiv in einem stren­gen for­ma­len Bewusstsein, das er in der Literatur der Moderne fand, die er genau kannte. James Joyce, T. S. Eliot oder E. E. Cummings rech­ne­ten mit ihrer Kunst zu sei­nen Leitsternen, ins­be­son­dere aber die fran­zö­si­sche Literatur des 19. Jahrhunderts, nament­lich Charles Baudelaire und Gustave Flaubert, die er Zeit sei­nes Lebens als Orientierungspunkte ansah. Besonders in Bezug auf Flaubert stellte er fest, dass er in sei­ner eige­nen Kunst von des­sen „Realismus und Naturalismus“ gelernt habe, von der „Objektivität der Behandlung, dem Unsichtbar-Werden des
Autors“.[6]

Auch Berges’ foto­gra­fi­sche Kunst, von der es heißt, ihr ers­ter Impuls ver­danke sich der Begegnung mit einem Buch von Evans[7], hat eine sol­che lite­ra­ri­sche Qualität, ihre Bildsprache bewegt sich auf der fei­nen Grenze zwi­schen inhalt­li­cher Referenz und poe­ti­schem Schweigen. Sie lässt sich in einem Diskurs sprach­li­cher Beschreibung nicht wirk­lich ein­lö­sen. So sind wir beim Betrachten der in Duisburg ent­stan­de­nen Fotografien und ihres Autors an einen lite­ra­ri­schen Vorläufer erin­nert, der unge­fähr ein Jahrhundert frü­her Tag um Tag durch Paris streifte und dabei den urba­nen Verfall als Spiegel sei­ner eige­nen inne­ren Wirklichkeit erfuhr: Malte Laurids Brigge. Dessen Beobachtungen, deren Autor Rainer Maria Rilke war, zäh­len zu den Schlüsseltexten der Literatur am Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen sich die Erfahrung einer umfas­sen­den Krise der Kultur und des Individuums aus­spricht. Was die­sen Text kenn­zeich­net ist eine Emphase des Sehens, die ihren Zugang zur Wirklichkeit ins­ge­samt kenn­zeich­net. Nicht das kleinste Detail ent­geht die­sem Blick, der die Welt in einem umfas­sen­den Sinn zum Sprechen bringt. Es ist ein Modus der Wahrnehmung, den wir ins­be­son­dere aus der bil­den­den Kunst, auch der Fotografie ken­nen. Nicht umsonst hat sich Rilke im Vorfeld der Entstehung des Malte Laurids Brigge inten­siv mit der Kunst Rodins und Cézannes aus­ein­an­der­ge­setzt. Was er dort lernte, hat er mit dem Begriff des „sach­li­chen Sagens“ gekenn­zeich­net: eine Sachlichkeit, in der das Beobachtete rest­los zur Form wird, ohne Über­hang emo­tio­na­ler Arabesken. Hören wir die­ser Stimme und ihren Beobachtungen abschlie­ßend zu: „Wird man es glau­ben, dass es sol­che Häuser giebt? […] Häuser? Aber, um genau zu sein, es waren Häuser, die nicht mehr da waren. Häuser, die man abge­bro­chen hatte von oben bis unten. […] Man sah ihre Innenseite. Man sah in den ver­schie­de­nen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch die Tapeten kleb­ten, da und dort den Ansatz des Fußbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwänden blieb die ganze Mauer ent­lang noch ein schmutzig-weißer Raum, und durch die­sen kroch in unsäg­lich wider­li­chen, wurm­wei­chen, gleich­sam ver­dau­en­den Bewegungen die offene, rost­fle­ckige Rinne der Abortröhre. […] Das zähe Leben die­ser Zimmer hatte sich nicht zer­tre­ten las­sen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblie­ben waren, es stand auf dem hand­brei­ten Rest der Fußböden, es war unter den Ansätzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig Innenraum gab, zusam­men­ge­kro­chen. […] Und aus die­sen blau, grün und gelb gewe­se­nen Wänden, die ein­ge­rahmt waren von den Bruchbahnen der zer­stör­ten Zwischenmauern, stand die Luft die­ser Leben her­aus, die zähe, träge, sto­ckige Luft, die kein Wind noch zer­streut hatte. […] Denn das ist das Schreckliche, dass ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne wei­te­res in mich ein: es ist zu Hause in mir.“[8] Tatsächlich scheint es in die­sem Text auch um einen Vorläufer jener Begegnung zu gehen, die Laurenz Berges mit der Stadt Duisburg hatte. Sein gedul­di­ges Gehen durch diese Straßen, sein Schauen, Suchen, Entdecken, Wiederkehren, die Einstellung der Kamera, das Vergleichen und Auswählen der Bilder: dies alles kün­det vom Zusammentreffen einer Stadt mit der Kunst. Duisburg mag eine arme, in wei­ten Teilen her­un­ter­ge­kom­mene Stadt sein. Laurenz Berges’ Bild von ihr aber gibt ihr eine Heimat im Reich der Kunst. Nicht jede Stadt kann dies für sich in Anspruch nehmen.

 


[1] Walker Evans, in: Walker Evans at Work, New York 1982, S. 220.

[2] Ulrich Herbert, „Schön war es nir­gends und nie“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Dezember 2018, S. 13. 

[3] Ulrich Herbert, ebd.

[4] Evans ver­stand Atget als eine Gründungsfigur der moder­nen Fotografie, des­sen Kunst seine eigene Ästhe­tik eini­ges ver­dankt. Es ist dabei auf­fäl­lig, dass Evans’ Charakterisierung von Atgets Kunst sich auch, muta­tis mutan­dis, wie eine Beschreibung von Laurenz Berges’ Fotografie lesen lässt. „Es ist mög­lich, so viele Dinge in seine Fotografien hin­ein­zu­le­sen, die er selbst viel­leicht nie­mals für sich for­mu­liert hätte. […] Seine gene­relle Note ist das lyri­sche Verständnis der Straße, ihre geübte Beobachtung, ein beson­de­res Gefühl für Patina, ein Auge für das spre­chende Detail, und über all dies legt sich eine Poesie, die nicht die ‚Poesie der Straße‘ ist oder die ‚Poesie von Paris‘, son­dern die Projektion von Atgets Person.“ Walker Evans, „The Reappearance of Photography“, ver­öf­fent­licht in Hound & Horn, #5 (Oktober–Dezember 1931), zit. n. Unclassified. A Walker Evans Anthology (hrsg. v. Jeff Rosenheim mit Alexis Schwarzenbach), Zürich/Berlin/New York 2000, S. 81.

[5] „Es hat mich sicher­lich geschmerzt, wenn Philister zu gewis­sen Werken von mir, die sich mit der Vergangenheit beschäf­ti­gen, bemerk­ten, ‚Oh, wie nost­al­gisch‘. Ich hasse die­ses Wort. Nostalgisch sein heißt, dass man sen­ti­men­tal ist. Aber inter­es­siert daran sein, was aus der Geschichte her­aus­fällt, auch wenn es nur ein Straßenbahnwagen ist, den man gefun­den hat, das ist keine Nostalgie. Man könnte Proust als nost­al­gisch lesen, aber das ist über­haupt nicht das, was Proust im Sinn hatte.“ Leslie Katz, „Interview with Walker Evans“, in: Art in America, März–April 1971, Bd. 59, Nr. 2, S. 87.

[6] „Ich weiß heute, dass Flauberts Ästhe­tik ganz und gar meine ist. Ich glaube, ich habe mir Flauberts Methode unbe­wusst ein­ver­leibt, jeden­falls habe ich sie auf zwei Arten gebraucht: sowohl sei­nen Realismus als auch sei­nen Naturalismus und genauso seine Objektivität der
Behandlung; das Unsichtbar-Machen des Autors, die Nicht-Subjektivität.“ Leslie Katz, ebd., S. 84.

[7] „Als Laurenz Berges 1985 in sei­ner Heimatstadt Cloppenburg in einer Buchhandlung ein Exemplar von First and Last von Walker Evans ent­deckte, kaufte er sich den Band von sei­nem Geburtstagsgeld. Es war sein ers­tes Fotobuch und er schätzt es noch heute.“ Thomas Weski, „Indirekte Erzählung“, in: Laurenz Berges. Frühauf  Danach, München 2011, S. 89. 

[8] Rainer Maria Rilke, „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910), in: ders., Werke in drei Bänden, Band 3, Prosa, Frankfurt am Main 1966, S. 149 ff.