Die Faszination der Fotografie besteht für Laurenz Berges nach sei­nem eige­nen Bekunden darin, sich mit einer vor­ge­fun­de­nen Situation aus­ein­an­der­zu­set­zen, um sie mit dem Mitteln des foto­gra­fi­schen Bildes zu inter­pre­tie­ren. Endecken, wahr­neh­men, aus­wäh­len deu­ten – so lau­ten die Etappen in der Entstehung und Entfaltung eines Themas. Dabei lei­tet den Fotografen eine Intuition, eine Synthese aus der inne­ren Vorstellung über das Bild über­haupt und dem, was sich dem offe­nen Blick darbietet.

Die Ausstellung von Laurenz Berges hier im Kunstverein Recklinghausen umfasst zwei Werkgruppen, die jeweils in the­ma­ti­schen Zusammenhängen ent­stan­den sind. Eine die­ser bei­den Gruppen ent­hält Fotografien, die an Orten auf­ge­nom­men wor­den sind, die durch den Tagebau in ihrer Existenz bedroht sind, etwa in der Region Garzweiler.
»Bedrohung« – das klingt nach dra­ma­ti­schem Geschehen, aber die Bilder von Laurenz Berges wol­len nun kei­nes­wegs dra­ma­ti­sie­ren, sie wol­len das Geschehen ganz im Gegenteil von den Randzonen, vom unschein­ba­ren her in den Blick rücken. Als Bilder könn­ten diese Aufnahmen sicher­lich auch anderswo ent­stan­den sein, doch bie­tet der zeit­ge­schicht­li­che Aspekt sozu­sa­gen einen men­ta­len Background, der die ein­zel­nen Arbeiten mit­ein­an­der ver­bin­det. Immer sind es Situationen, in denen Dinge wie Sträucher, Bäume, Fassaden, Geländer etwas vom mensch­li­chen Eingriff erah­nen las­sen: Bilder, die gefärbt sind vom mensch­li­chen Leben.
Laurenz Berges ist ein Fotograf, der sich für das Nebensächliche oder auch nur schein­bar Nebensächliche inter­es­siert, für ver­nach­läs­sigte Orte und ihre Gegenstände und Dinge, die über­se­hen wer­den, die aber exem­pla­ri­schen Charakter anneh­men kön­nen, weil sich in ihnen »Leben« höchst authen­tisch »sedi­men­tiert« hat. In der gegen­wär­ti­gen Szene fin­den wir meh­rere sol­cher Ansätze, man denke im Rhein-Ruhr-Raum allein an die Arbeiten von Joachim Brom, der sich in Langzeitstudien aus­ge­wähl­ten Orten und ihren Veränderungen wid­met, so etwa die Metamorphose eines ehe­ma­li­gen Industriegebiets in München zu einer neuen Wohnstadt, oder man denke an Candida Höfer, die bestimmte Innenräume abbil­det wie Museen und Bibliotheken, man denke an die Felder von Simone Nieweg am Niederrhein. Es geht letzt­lich um nichts ande­res, um es viel­leicht ein wenig pathe­tisch zu sagen, als die Welt und ihre sicht­bare Wirklichkeit zu reflek­tie­ren.
Geleitet ist auch das Werk von Laurenz Berges von einem Vertrauen in die Potentiale des Sichtbaren, die eine spe­zi­fi­sche Wahrheit über das Aussehen von Welt ver­mit­teln und zuspit­zen. Bei Laurenz Berges ist es eine Gegenwart, in der sich Erinnerung viel­leicht mehr noch als eine Erwartung an die Zukunft spie­gelt und ver­dich­tet. Die andere der bei­den hier auf­ge­stell­ten Werkgruppen die in den Jahren nach dem Mauerfall 1989 ent­stand. Laurenz Berges machte sich damals in die DDR auf – zunächst ein­mal mit den Interessen an das bestimmte, visu­elle Kolorit, das hier vor­herrschte, wenn man das so sagen darf, eine Atmosphäre, die man in jener Zeit nur auf dem Gebiet der DDR bzw. den »neuen Bundesländern« antref­fen konnte. Es war eine Atmosphäre , bei der man abse­hen konnte, dass sie sich im Laufe der Zeit ver­flüch­ti­gen und irgend­wann ver­schwin­den würde.

Berges schaut sich in die­sem Gebiet um, war davon fas­zi­niert und suchte nach einem fokus­sie­ren­den Thema, das seine Erfahrungen bei­spiel­haft zusam­men­fas­sen könnte. Er fand die­ses Thema durch Zufall nörd­lich von Berlin an der alten Bundesstraße 96, als er auf Kasernen stieß, die von den Einheiten der Sowjetarmee bewohnt gewe­sen, zum Teil aber auch noch genutzt wor­den waren. Berges fand hier ein beson­de­res ästhetisch-geschichtliches Fluidum: Die Kasernen hat­ten als Architekturen selbst bereits eine lange Geschichte hin­ter sich, die bis in den Nationalsozialismus und das Kaiserreich zurück­ging. Berges obdu­zierte gleich­sam diese Orte, die der Öffent­lich­keit ver­sperrt geblie­ben waren und jetzt mit einem Male Einblicke in ein spe­zi­fi­sches Innenleben gewähr­ten.
Im Zuge sei­ner Recherchen kon­zer­tierte sich Laurenz Berges schließ­lich auf das Land Brandenburg, das am stärks­ten mili­tä­risch genutzt wurde. Er emp­fand diese Region als »El-Dorado« für seine Arbeit, weil er hier voll­kom­men unge­stört arbei­ten konnte.
Die Interieurs, die Laurenz Berges hier in den Jahren von 1991 bis 1995 auf­ge­nom­men hat, sind alle­samt leer­ge­räumt, sie sind ver­lebt, sozu­sa­gen aus­ge­lebt, bau­fäl­lig und hin­fäl­lig gewor­den, sie sind von Spuren ver­gan­ge­nen Lebens gezeich­net, mit­un­ter auch von einer Verfallsromantik geprägt, ver­schmutzt, man denkt eher an die Behausungen denn an Wohnungen. Zweifellos han­delt es sich um einen »doku­men­ta­ri­schen« Blick auf diese Orte, aber die­ser ver­pflich­tet, die kah­len und nack­ten Dinge nicht nur nüch­tern, son­dern auch in ihrem emo­tio­na­len Gehalt vor­zu­stel­len.
Keineswegs geht es also darum, dass der Autor der Aufnahmen hin­ter die­sen gänz­lich zurück­tritt. Aufschlussreich für den Begriff des »Dokumentarischen« scheint mir in die­sem Zusammenhang die Tatsache zu sein, dass auch einer der berühm­tes­ten Fotografen mit doku­men­ta­ri­schen Ansatz – näm­lich Walter Evans – nicht von »Dokumentation« gespro­chen, um sei­nen Anspruch zu cha­rak­te­ri­sie­ren, son­dern viel­mehr von einem »doku­men­ta­ri­schen Stil«, den er aus­bil­den wolle. Das heißt, dass der doku­men­ta­ri­sche Blick auf Situationen, Menschen und Gegenstände gelei­tet wird durch ein aus­drück­li­ches ästhe­ti­sches Interesse — eine visu­elle Anverwandlung und Durchdringung der Außenwelt, die sich von Fotografen nicht tren­nen lässt.
Unter die­sem Gesichtspunkt besteht das Dokumentarische bei Laurenz Berges nach mei­nem Dafürhalten, nicht etwa darin attrak­tive Muster oder »Abstraktionen« aus den Augenblicken her­aus­zu­fil­tern. Natürlich könnte man sagen, dass all diese Bilder doch auf­fal­lend und aus­drück­lich »gebaut« sind: zum Beispiel in der Art, wie wir fron­tal oder dia­go­nal auf eine Wand schauen, wie sich das von außen ein­fal­lende Tageslicht in den Räumen aus­brei­tet und diese mit einer Stimmung erfül­len, die man durch­aus als »male­risch« bezeich­nen kann. Und in der Tat kön­nen wir beob­ach­ten, wie die Muster von den Tapeten umschla­gen visu­elle Angebote von Licht und Farbe.
Doch es geht bei all dem, wie mir scheint, nie­mals darum, diese Eindrücke von dem Lebensstrom zu iso­lie­ren, son­dern uns als Betrachter im Gegenteil in die­sen Lebensstrom erschwin­gen zu las­sen.
Diese Bildern ist eine Erinnerung ein­be­schrie­ben, eine Erinnerung an die Lebensbedingungen der kon­kre­ten Orte.
Aber min­des­tens ebenso geht es mei­nes Erachtens auch um eine Faszination an der visu­el­len Erzählung als sol­cher, die sich in jedem ein­zel­nen Bild neu ver­dich­tet. Und dann ent­steht auch etwas Metaphorisches, Sinnbildliches, das sich zum Beispiel in der Bedeutung des natür­li­chen Tageslichts zu erken­nen gibt.
Es ist ein Licht, dass durch die Fenster in den Raum fällt und wie man es auch in eini­gen Interieur-Bildern von Joel Meyerowitz aus den sieb­zi­ger Jahren antrifft. Ich denke, dass die­ses Licht den kon­kre­ten Augenblick par­ti­ell zu tran­szen­die­ren ver­mag: als Hinweis viel­leicht sogar auf die Bedingungen von Leben über­haupt.
Vor die­sem Hintergrund wird ein­sich­tig, dass Laurenz Berges dem Begriff »sach­lich« für seine eigene Arbeit skep­tisch gegen­über­steht. Seine Schilderung der Wirklichkeit bewegt sich zwi­schen visu­el­ler Prosa und visu­el­ler Poesie.
Und nicht zuletzt kon­fron­tie­ren uns diese Bilder immer auch mit unse­ren eige­nen »Vorurteilen« im her­me­neu­ti­schen, Gadamerschen Sinne, mit den Vormeinungen, mit denen wir der Welt begeg­nen.
Denn was uns ins­ge­samt in den Kasernenbildern als Tristesse und Melancholie anmu­ten mag, zeigte sich in den frü­he­ren Besatzern unter ganz ande­ren Vorzeichen.
Diese bekun­den sich in dem Zitat eines rus­si­schen Soldaten, das dem beglei­ten­den Katalog zu die­ser Ausstellung vor­an­ge­stellt ist. »Russland ist meine Heimat«, so sagte die­ser Soldat, »Deutschland mein Paradies«.
Herzlichen Dank!